Die Wahrheiten meiner Mutter: Roman
Ich-Erzählerin Johanna hat Norwegen bereits vor über 30 Jahren verlassen. Damals war sie als Jura-Studentin mit einem aufstrebenden jungen Anwalt verheiratet, der von ihren Eltern sehr geschätzt wurde. Doch Johanna brach aus diesem ungeliebten, vorbestimmten Leben aus: Sie erfüllte sich ihren lang gehegten Jugendtraum, als sie in einem Malkurs Mark kennen und lieben lernte. Mit ihm siedelte sie in die USA über, wo sie sich über die Jahre als prominente Kunstmalerin etablieren konnte – ihr Ruf reicht bis nach Europa. Johanna begann ein komplett neues Leben, heiratete Mark und bekam einen Sohn, der mittlerweile selbst erwachsen und Vater ist. Für diesen Neuanfang in den USA hatten die Eltern damals absolut kein Verständnis, das Verhältnis kühlte merklich ab. Zum völligen Kontaktabbruch kam es vor 14 Jahren, als Johannas Vater starb und die verlorene Tochter der Trauerfeier fernblieb.
Doch nun in der Gegenwart ist Johanna wieder in der Stadt ihrer Kindheit angekommen, um eine Kunstausstellung ihrer Werke zu begleiten. Das Wiedersehen der Heimat löst eigenartige Gefühle in ihr aus. Sie beginnt, sich nach ihrer Herkunftsfamilie zu sehnen, insbesondere nach einer Aussprache mit ihrer mittlerweile hochbetagten Mutter. Johanna fühlt sich zu Unrecht verstoßen und aus dem Familienstammbaum herausgestrichen. Sie möchte Ihre Version der Geschichte erzählen und dem zerrütteten Verhältnis auf den Grund gehen. Sie möchte auch von ihrem Leben berichten, von ihrem Sohn, von der Trauer um den zu früh verstorbenen Mark. Sie glaubt, heute mehr Verständnis für die Lage ihrer Mutter aufzubringen.
Da Johanna lange keine Gelegenheit für ein Zwiegespräch bekommt, dürfen wir als Leser an ihren intensiven Gedanken und Emotionen teilhaben. Zentral sind die Erinnerungen an ihre Kindheit, während der die Mutter vom dominanten Vater beherrscht wurde und als Hausfrau kaum eine eigene Meinung haben durfte. Johanna galt immer als die schwierige Tochter, sie bekam kaum Anerkennung und Zuspruch. Stattdessen sollte sie sich stets den Wünschen der Eltern beugen und vor allem ihre künstlerischen Talente verleugnen. Johanna ruft sich viele Szenen in Erinnerung, die ein vermeintlich widersprüchliches Verhalten insbesondere ihrer Mutter zeigen. Sie sucht Beweise, dass ihre Mutter selbst unglücklich war, dass sie Johanna nahe stand, dass sie Verständnis für ihre Sorgen hatte, dass sie sich gegen den Vater aber kaum durchsetzen konnte. Diese Innenschau gerät ungemein bewegend, vielschichtig und auch glaubwürdig. Als Mutter denkt Johanna mittlerweile gereift und differenziert über manches Erlebnis, dennoch muss man sich immer darüber bewusst sein, dass man nur ihre Perspektive kennenlernt.
Mit Spannung verfolgt man die unterschiedlichen Versuche Johannas, den Kontakt zur Mutter wiederherzustellen. Ihre Fokussierung wird immer stärker, gerät zur Obsession. Johanna beobachtet und verfolgt ihre Mutter, will das Gespräch beinahe erzwingen. Dabei dient ihr ihre jüngere Schwester Ruth, die stets in der Nähe der Mutter wohnte und sich bis heute um sie kümmert, als Sündenbock: „Ich gebe Ruth die Schuld, um Mutter freizusprechen, das ist Einfachste.“ (S.88) Neben ihrem Atelier in der Stadt bezieht Johanna noch ein Haus im Wald. Hier zieht sie sich in die Einsamkeit zurück, spürt eine starke, anrührende Bindung zu Umwelt und Natur, die ihr Kraft gibt.
Dieser Roman ist eine Nabelschau, er analysiert die Mutter-Tochter-Beziehung in all ihren Facetten. Es geht um familiäre Beziehungen und Verstrickungen, um genetisches und sozialisiertes Erbe, um Weitergabe transgenerationaler Traumata, um den Gehalt von diesbezüglichen Erinnerungen. „Jeder ist dem eigenen Leiden die Nächste. Aber ich habe den Verdacht, dass mein Leiden aufs engste mit ihrem zusammenhängt, das immer so geheim war, ich habe es immer stark gespürt.“(S. 82) Es geht um Suche nach eigener Identität, um Enttäuschungen, Schuld, Vergebung, um die Rolle von Eltern und Kindern, um die Suche nach der (objektiven) Wahrheit. Es geht aber auch um Kunst und ihre Grenzen.
Der Text ist wahnsinnig kraftvoll, klar und präzise formuliert. Man findet viele poetische Passagen, die Johannas Nöte und Reflexionen spiegeln. Manche Seiten enthalten dementsprechend nur einen einzigen Satz oder Absatz, den man auf sich wirken lassen muss, so wie z.B. diesen: „Wenn man wüsste, wenn man in jungen Jahren verstünde, wie entscheidend die Kindheit ist, würde man niemals wagen, selbst Kinder zu bekommen.“ (S. 238) Obwohl man überwiegend dem inneren Monolog der Ich-Erzählerin folgt, es nur wenige Dialoge gibt, entwickelt der Text einen enormen Sog. Manchmal scheint die Handlung dabei auf der Stelle zu treten, weil sich die Gedanken der Protagonistin im Kreis drehen oder sie keine Entscheidung fällen kann. Das ist gewiss bewusst so konzipiert, erfordert aber etwas Geduld beim Leser. Zum Ende hin zieht die Dynamik deutlich an, die Geschichte wird zu einem glaubwürdigen, nachvollziehbaren Ende geführt.
Vigdis Hjorth kann wunderbar schreiben, sie ist nicht umsonst eine der berühmtesten Autorinnen Norwegens. Gabriele Haefs ist es gelungen, den Text in seiner ganzen Strahlkraft ins Deutsche zu übertragen. Der Roman wurde für den International Booker Prize 2023 nominiert. Er wird von einer latenten Melancholie durchzogen, ist dabei aber prall gefüllt mit klugen Gedanken, die zum Nachdenken anregen. Ein Roman für Leser, die sich gern in die Psyche anderer Menschen mit ihren Konflikten hineindenken, die sich für familiäre Beziehungen interessieren und für all jene, die einfach gute Literatur schätzen.
Große Lese-Empfehlung!
4,5/5 Sterne
Mein Hör-Eindruck:
Johanna ist 60 Jahre alt, sie ist eine erfolgreiche Künstlerin und lebt in den USA. Zu ihrer Familie hat sie keinen Kontakt mehr. Als nun ihr zu Ehren in ihrer norwegischen Heimatstadt eine Retrospektive ihrer Werke eingerichtet wird, kehrt sie zurück in der Hoffnung, sich der Mutter wieder annähern zu können. Die Mutter aber verweigert jeden Kontakt.
Die Gedanken der Tochter kreisen unablässig und in sich wiederholenden, auch den Leser quälenden Schleifen um die Mutter. Wie sieht sie aus? Wie lebt sie? Hat sie ihre roten Haare noch? Wie verlebt sie den Tag? Johanna imaginiert ihre Mutter: „Ich erdichte dich mit Wörtern, um ein Bild von dir zu haben.“
In den Gedankenschleifen erfährt der Leser auch in kleinen Splittern die Gründe für den Kontaktabbruch, dessen Ursachen in der Kindheit liegen. Es war nicht nur der dominante Vater, der für Johannas Begabungen und ihr Wesen nur Spott übrighatte, sondern auch die Mutter, die sich dem Vater unterwarf und seinen Erwartungsdruck an Johanna weiterleitete. Beide fordern angepasstes Verhalten von ihr ein und begegnen ihr, ihren Lebensvorstellungen und auch ihren Wahrnehmungen mit Abwertung und Verachtung. Bis es zum Skandal kommt, der die Eltern mit der Tochter endgültig brechen lässt.
Johanna erinnert sich zunehmend deutlicher an einzelne Situationen ihrer Kindheit und bringt ihre unklaren Erinnerungen in einen Zusammenhang. Dadurch erkennt sie den Lebensschmerz ihrer Mutter, aber zweifelt nach wie vor an ihren Wahrnehmungen. Sie braucht die Bestätigung durch die Mutter, um ihr vergeben zu können. So wird ihr Wunsch nach einem Gespräch zur Obsession, Meter um Meter nähert sie sich ihrer Mutter. Sie erkennt, wie instabil ihre Mutter und daher auf das Beachten von Regeln und Konventionen angewiesen war. Und sie erkennt die Wahrheiten ihrer Mutter: dass nämlich unbehagliche Wahrheiten nicht akzeptiert, sondern als Wahrnehmungsstörung der anderen eingeordnet werden.
Die Autorin erzählt ausgesprochen raffiniert. Der Leser hört sich Johannas Monolog zunächst mit Mitleid, aber auch mit kritischer Distanz an, und er fragt sich, inwieweit Johanna eine zuverlässige Beobachterin ist. Damit wird der Leser äußerst subtil in die Position der Eltern gedrängt. Erst im Lauf des Monologs erkennt er Johannas Wahrheit und stellt sich schließlich auf ihre Seite. Dieses Spiel mit der Position des Lesers hat mit sehr gut gefallen.
Der Roman wird perfekt eingelesen von Frauke Poolmann. Ihre Stimmfärbung passt zum Inhalt, und mit Tempo-Variationen verstärkt sie die quälenden Gedankenschleifen der Erzählerin.
Fazit: Ein raffiniert erzählter Roman um Unterwerfung und Erlösung.
4,5/5*
Vigdis Hjorth zählt zu den wichtigsten Autorinnen der norwegischen Gegenwartsliteratur. Dieser schon 2020 , im Original unter dem Titel „ Er mor dod“ - „ Ist Mutter tot“, erschienene Roman war nominiert für den International Booker Prize“.
Die Ich- Erzählerin Johanna kehrt als erfolgreiche Malerin nach dreißig Jahren in ihre Heimat Norwegen zurück, um eine Ausstellung ihrer Werke mitzugestalten. Ihr amerikanischer Ehemann, für den sie damals ihren Mann und ihre Familie verlassen hat, ist gestorben. Der erwachsene Sohn ist selbst schon Vater und lebt in Dänemark.
Für ihre Eltern war ihre Flucht damals ein Schock und als Johanna nicht einmal zur Beerdigung ihres Vaters nach Hause kam, hat die Familie endgültig mit ihr gebrochen.
Nun versucht sie Kontakt zu ihrer Mutter aufzunehmen. Sie wünscht sich eine Aussprache und vielleicht sogar eine Aussöhnung. Doch die Mutter geht nicht ans Telefon, reagiert auch nicht auf ihre Mail- Anfragen. Auch ihre jüngere Schwester, die sich ständig um die betagte Mutter kümmert, will nichts von ihr wissen.
Johanna zieht sich in die Einsamkeit einer Hütte am Fjord zurück, um Klarheit zu finden.
Ihre Gedanken führen sie in die Vergangenheit . Schon vor ihrem Weggang war das Verhältnis getrübt. Johanna fühlte sich unverstanden, nicht angenommen. Der Vater hatte für die ersten künstlerischen Versuche seiner Tochter nur Spott übrig und die Mutter, die zuvor noch stolz war auf die Bilder, schließt sich der Meinung des Vaters an. Das für sie vorgesehene bürgerliche Leben als Juristin und Ehefrau war nicht das, was sich Johanna vorgestellt hat. Johanna musste gehen, um ihren eigenen Weg zu finden. Doch das hat ihre Familie nicht verstanden. Die beiden von Johanna geschaffenen Gemälde über eine Mutter mit Kind empfanden sie als persönlichen Angriff, als Beleidigung, nicht als künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Mutterschaft.
Neben den Erinnerungen kreisen Johannas Gedanken um ihre Mutter. Wie war sie damals, war sie glücklich? Und was ist sie heute für eine Frau? Da sie so lange keinen Kontakt zu ihr hatte, ist sie „ zu einem fremden Land geworden“. Sie muss sie neu für sich erfinden. „ Mutter, ich erdichte dich mit Wörtern, um ein Bild von dir zu haben.“
Johannas Wunsch einer Begegnung mit der Mutter wird immer obsessiver. Sie wartet stundenlang im Auto vor deren Wohnung, geht ihr hinterher, schreckt aber vor einem persönlichen Kontakt zurück. Sie erfindet sich den Alltag der Mutter, imaginiert ein Wiedersehen mit ihr.
Das ist zum Teil beklemmend zu lesen, manches ermüdend, weil sich die Gedanken und Handlungen, die wir detailliert miterleben, im Kreis drehen. Allerdings ist genau dieses gleichzeitig sehr glaubhaft und psychologisch stimmig.
Der Roman ist voll mit grundsätzlichen Überlegungen zu Mutterschaft und familiären Beziehungen. „ Wenn man wüsste, wenn man in jungen Jahren verstünde, wie entscheidend die Kindheit ist, würde man niemals wagen, selbst Kinder zu bekommen.“ heißt es im Text.
Auch Bezüge zur Literatur ( Ibsen ) und zur Bibel ( Heimkehr des verlorenen Sohnes ) lassen sich finden. Und Fragen nach dem Recht des Künstlers auf seine freie Gestaltung, ohne Rücksicht auf familiäre Bindungen, werden angesprochen. Diese Reflexionen geben dem Roman zusätzliche Tiefe.
Die Sprache ist klar und präzise, poetisch wird der Text, wenn die Autorin die Natur rund um Johannas Rückzugsort beschreibt. Hier finden sich Bilder, die Johannas Seelenleben spiegeln.
„ Die Wahrheiten meiner Mutter“ ist ein intensiver und z.T. schmerzhafter Roman über eine komplizierte Mutter- Tochter- Beziehung, über Familienstrukturen und seelische Verletzungen. Keine angenehme Lektüre, aber eine gewinnbringende.
Weil sie nicht daran teilhaben durfte, erschafft sich die Protagonistin das Leben ihrer Mutter im Geiste. Man hat sie aus der Familie ausgeschlossen, aber sie versteht nicht warum.
Diese Frage muss sie ergründen. Verzweifeltes Bemühen um Erklärung, das ihre Gedanken beherrscht und ihr den Schlaf raubt.
In ihrem Buch hat die Autorin alle Fragen, die es geben kann in einem zerrütteten Verhältnis zwischen Mutter und Tochter gestellt und beantwortet. Alle Aspekte aus allen Richtungen betrachtet, alle Möglichkeiten erwogen und gewogen, alles schon im Voraus gedacht, bedacht und gefühlt, alle Schmerzen durchlitten und ertragen.
In ihrem eigenen Leben musste sie Vater und Mutter vergessen, wenn sie glücklich sein wollte.
Sie ist nicht den Weg der Mutter gegangen, sie wollte nur das leben, was in ihr war. Ist es möglich, dass sich eine Mutter so radikal und herzlos von ihrem Kind trennen kann?
Sie muss die Antwort finden, um weiterleben zu können.
Ein Buch, dass manche bis in ihre Grundfesten erschüttern könnte.
Ein Buch, dass einen so schnell nicht mehr loslässt.
Die Umschlaggestaltung von Leif Nyland imaginiert perfekt die Stimmung Norwegens und die Stimmung des Buches.
Kind und Mutter
Vigdis Hjorth, geboren 1959 in Oslo, gehört zu den wichtigsten Gegenwartsautorinnen Norwegens, vielfach ausgezeichnet und übersetzt. Ihr 2016 erschienener Roman "Arv og miljø", deutsch "Bergljots Familie" (2019), veranlasste ihre Schwester zu einem „Gegenroman“ und wurde in Norwegen ebenso bejubelt wie kontrovers diskutiert. Der literarisch aufbereitete Einblick in die eigene Familie mit dem Vorwurf väterlichen Missbrauchs löste bei mir gleichermaßen Sog und Unbehagen über diese Art der „Virkelighetslitteratur“ aus und beschäftigt mich noch immer.
Obwohl das neue Buch "Die Wahrheiten meiner Mutter" mit dem deutlich drastischeren Originaltitel "Er mor død" (ohne Fragezeichen), wieder hervorragend übersetzt von Gabriele Haefs, nicht autofiktional ist, weist es doch Parallelen auf. Erneut geht es um Uneinigkeit über die gemeinsame Familiengeschichte und die Gründe für einen Bruch. Zugleich greift die Autorin Aspekte der Debatte um Arv og miljø auf: Dürfen private Erfahrungen und Familieninterna in Kunstwerken verhandelt werden und haben alle Kunstwerke einen autobiografischen Kern?
"Das Verhältnis eines Werkes zur Wirklichkeit ist uninteressant, das Verhältnis eines Werkes zur Wahrheit ist entscheidend, der Wahrheitswert eines Werkes liegt nicht in seinem Verhältnis zur Wirklichkeit, sondern in seiner Wirkung auf die, die es betrachten." (S. 312)
Flucht
Die bildende Künstlerin Johanna Hauk verteidigt die Kunstfreiheit im Roman vehement. Sie hat vor 30 Jahren ihren Mann, ihre Eltern, ihre Schwester Ruth und ihr Jurastudium zurückgelassen und ist dem Kunstlehrer Mark, ihrem zweiten Ehemann, nach Utah gefolgt. Inzwischen stellt sie überall auf der Welt erfolgreich ihre Bilder aus. Ihre Eltern wollten Mark und den Enkel John nie kennenlernen. Als Johanna nicht zur Beerdigung des Vaters kam, dann aber bei einer Ausstellung in Oslo ihre Triptychen „Kind und Mutter" gezeigt wurden, die die Familie als Provokation auffasste, brach der spärliche Kontakt völlig ab.
Rückkehr
Nun ist sie, inzwischen verwitwet, erstmals zur Vorbereitung einer Retrospektive in ihre Heimatstadt zurückgekehrt und hofft auf ein Gespräch mit ihrer betagten Mutter. Doch die hebt das Telefon nicht ab, antwortet nicht auf Textnachrichten. Verhindert die Schwester, wie Johanna sich einzureden versucht, die Kontaktaufnahme?
Je mehr Mutter und Schwester sich verweigern, desto obsessiver werden Johannas Bemühungen. Sie beobachtet die mütterliche Wohnung, schleicht ins Treppenhaus, folgt ihr, wenn sie mit Ruth das Haus verlässt, und filzt ihren Müll.
Zugleich kehren Kindheitserinnerungen zurück. Wann übernahm die zuvor zugewandte Mutter die spöttisch-ablehnende Haltung des Vaters zum Zeichentalent der Tochter? Immer verzweifelter sucht Johanna nach Beweisen, dass der Schmerz der Mutter lange vor der Flucht der Tochter begann. Hat sie nicht ihre Qualen durch eine immer größere Anpassung an den dominanten Vater kompensiert, die sie auch ihren Töchtern auferlegte? Doch was ist Erinnerung, was Fantasie?
"Mutters Mysterium ist mein Mysterium und das Rätsel meines Daseins, und ich fühle, dass ich nur in der Annäherung an dieses Mysterium eine Form von existenzieller Erlösung erreichen kann." (S. 360)
Eine Hütte im Wald wird zu Johannas Flucht- und Ruhepunkt.
Ein packender Monolog
In knappen Sequenzen mit manchmal nur einem oder wenigen kurzen Sätzen pro Seite folgen wir der Ich-Erzählerin auf der Suche nach Erlösung. Immer wieder zitiert sie Henrik Ibsen, Søren Kierkegaard, Marguerite Duras oder die Bibel, reflektiert Muttersein und Familiendynamiken. Parallelen zur grandiosen Natur rund um die Hütte drängen sich auf.
Trotz kleinerer Längen im Mittelteil hat mich dieser 400 Seiten umfassende, präzise formulierte, in einem furiosen Finale mündende innere Monolog begeistert. Zu Recht stand der Roman 2023 auf der Longlist zum International Booker Prize.